Rezension: Denker. Henker. Helfer. Jünger. Die Philosophen und der Nationalsozialismus | Sonderausgabe 03 des „Philosophie Magazin“

Dass die Bandbreite an philosophischen Fachzeitschriften eine große ist, dürfte nicht wirklich überraschen. Schließlich soll es ja ziemlich exakt so viele Philosophien wie Philosophen unter der Sonne geben. Entsprechend „exklusiv“ beziffert sich dann auch die Auflage der meisten dieser Organe. Anders, nämlich eher überschaubar, zeigt sich das Angebot für populärphilosophische Magazine. Einer der Platzhirsche auf diesem Markt ist der französische Verleger Fabrice Gerschel. 2006 gründete er in Paris das heute vor allem in Frankreich sehr erfolgreiche Philosophie Magazin – die Idee dazu kam ihm übrigens am „sonnigen Strand auf Korsika“. Seit 2011 scheint und erscheint dieser Lichtblick für Weisheitsfreunde auch sechs Mal pro Jahr auf Deutsch: unter der Ägide von Chefredakteur Wolfram Eilenberger im Berliner Philomagazin Verlag und mit einer Auflage von rund 100.000 Exemplaren pro Heft. Zudem erscheinen regelmäßig Sonderausgaben zu speziellen Themen. Die seit Januar 2015, und damit synchron zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, erhältliche Nummer 3 dieser Sonderhefte widmet sich dem Thema „Die Philosophen und der Nationalsozialismus“.

pmdesa3nazis2coverChefredakteurin dieser Extra-Edition ist die Berliner Autorin, Journalistin und Philosophin Catherine Newmark. Sie bzw. ihr Team hat bei diesem Themenkreis nicht zuletzt auch formal eine Zäsur zu den laufenden Ausgaben des „Philomag“ gesetzt. Statt „bunt und angenehm locker gestaltet“ die „Philosophie in unseren Alltag“ zu bringen (so der Anspruch des Verlags), herrscht hier nun schwarz-weiß Ästhetik vor – und ein an den Konstruktivismus erinnernder Einsatz von zumeist roten „Störern“. Das Farbklima der Nazis selbst bildet somit quasi das optische Grundrauschen des ganzen Hefts.

Entscheidend freilich sind die Inhalte. Diese spannen über knapp 100 Seiten den ganz großen Bogen: von den philosophischen Ursprüngen der Grundbegriffe des nationalsozialistischen Denkens (z.B. der gründlich missverstandene Ausdruck „Arier“ von Joseph Arthur de Gobineau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts) über Betrachtungen zur „Idee der Volksgemeinschaft“ bis hin zu Fragen der Jüdischen Theologie nach der Shoah oder „Ausschwitz als Metapher der Moderne“. Selbstverständlich werden auch Nietzsche und ganz besonders Heidegger einer umfassenden Analyse unterzogen. Und weder Paul Celan, Hannah Arendt oder Adorno dürfen mit ihren oft zitierten Maximen und Werken fehlen (wie u.a. die „Todesfuge“ in voller Länge).

Erfährt man also wirklich Neues? Ja und nein… und vielleicht. Natürlich hängt die Höhe des Erkenntnisgewinns wie immer so auch hier vom Ausgangslevel des jeweiligen Lesers ab. Sehr gut recherchiert und aufbereitet sind eine ganze Reihe von historischen Quellen, wie etwa Karl Jaspers‘ Publikation zur „Schuldfrage“ oder die Rede von Thomas Mann „Deutsche Ansprache“ aus dem Jahr 1930. Und generell wird schnell klar, dass etwa Heidegger und Konsorten nur die Spitze eines Eisbergs an Wegbereitern oder -begleitern der Nazi-Ideologie waren. Viele Aspekte werden auch durch teils hochkarätige Interviews eingehend betrachtet. Unter anderem wäre hier das wirklich in die Tiefe gehende Gespräch mit Volker Gerhard (bis 2012 Mitglied des Deutschen Ethikrats) zum Thema „Der Wille zur Macht“ zu erwähnen. Vom Aufbau her naheliegend, aber letztlich eben auch sehr komfortabel fürs einordnende Verständnis: der Großteil aller Artikel und Dokumente ist in einen historisch-chronologischen Rapport eingebettet; mit den Kapiteln „Aufstieg der NSDAP“, „Machtergreifung“, „Kriegsjahre“ und – höchst interessant – „Unheimliche Kontinuität: NS-Philosophen in der BRD“. Es gab eben neben dem unsicheren Kantonisten und „antisemitischen Dauerläufer“ Heidegger auch nach dem Krieg weitere fragwürdige Sportsfreunde im Geiste – und in Amt und Würden. Etwa Hans-Georg Gadamer, Arnold Gehlen oder Hans Freyer, um nur einige zu nennen.

Fazit: Wer sich im Zusammenhang mit den anstehenden Gedenktagen die Frage stellt, ob und wie es sein kann, dass die „Liebe zur Weisheit“ auch zum Apologeten von Rassenwahn oder Kriegstreiberei werden kann, findet hier erste Antworten. Und eine Menge Tipps für weitere Nachforschungen in eigener Regie. Wer denkt, dass die Zeit der Nazis ein Zwischenspuk war und eigentlich „zum Vergessen“ ist, der kann nach der Lektüre dieses Sonderhefts zumindest für unsere Gegenwart eines gewinnen: nämlich den geschärften Blick auf die historische Kontinuität und den katastrophalen Impetus eines Denkens im radikalen Rahmen. Denn Intelligenz ohne Empathie war, ist und bleibt nun mal eine der verheerendsten Konstellationen, die das menschliche Gehirn zu bieten hat.

Rezension: Harald Wurst | ph1.de

Rezension: Robin Sloan, Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra. Oder: Typen, Typo und Türen in Parallelwelten.

Die Besessenheit von Google, unsere ganze Welt zu quantifizieren und zu arrangieren. Die fixen Ideen von traditionellen Lesern, mit ihren Visionen aus alten oder neueren Texten verborgene Botschaften fürs eigene Leben herausdestillieren zu können. Die Geschichte vom Beginn der modernen Typografie im Venedig des frühen 16. Jahrhunderts unter besonderer Betrachtung deren akuten Auswirkungen auf die Apple-Politik, Word-Dokumente oder Firmen-Logos. Dazu ein etwas ranziger Fantasy-Autor aus den 80ern mit seinem Eigenleben auf alten Tonbändern, ein Ausflug in den Wahnwitz der digitalen Start-up Szene – garniert von einer kiffenden älteren Dame mit Erwerbsbiografie als Programmiererin – ein sich selbst organisierendes Lager für herrenlose Museums-Artefakte sowie eine Pizzeria, über die ein weltweit gesuchter Hacker konspirative Hardware in Umlauf bringt…

…das alles (und noch einiges mehr) muss man erst mal in ein Buch und eine spannende Handlung auf knapp 360 Seiten packen können. Der Mann, der das kann, heißt Robin Sloan, ist studierter Wirtschaftswissenschaftler und hat nicht nur viel Humor, sondern unter anderem auch in führender Position bei Twitter gearbeitet.

Die sonderbare Buchhandlung des Mr Penumbra von Robin Sloan
Quelle: Karl Blessing Verlag

Die an skurrilen Einfällen und kuriosen Szenen reiche Geschichte wird aus der Ich-Perspektive des einstigen Webdesigners und jetzigen Aushilfsbuchhändlers Clay Jannon erzählt. Klassisch linear, sprachlich sauber, mit Witz, Intelligenz und mit den heute oft üblichen Querversweisen auf die Populärkultur. Aber Achtung! Hier ist längst nicht alles so, wie es den Anschein hat. Wer sich etwa im Internet auf die Suche nach der Schriftart „Griffo Gerritszoon“ machen wird (und die ist für den Plot von zentraler Bedeutung), erfährt keine lexikalische Erklärung, sondern landet bei einer erstaunlichen Anzahl von Blogs und Websites von Lesern rund um dieses Buch. Denn natürlich arbeitet Robin Sloan in bester Tradition von Kollegen wie Robert Anton Wilson oder William Kotzwinkle mit dem Kunstgriff der Halb- und auch Desinformation. Und je eher man als Leser dieses Spiel durchschaut, umso länger hat man das Vergnügen mit diesem Roman. Vor allem: Als Autor Jahrgang 1979 ist Sloan mit den Fallen des Instant-Wissens der Wikipedia-Jünger bestens vertraut. Genau das macht er hier zur Zutat seiner schriftstellerischen Strategie. Generell ist der Tenor des Buches ohnehin von einer ironischen Distanz zu den vermeintlichen Segnungen der IT-Industrie bzw. zu den fanatischen Apologeten einer digitalen Wunderwelt geprägt. Nicht zu vergessen: der Mann ist Insider!

Worum dreht sich aber eigentlich die Geschichte? Nun, viel werde ich hier nicht verraten. Und die Sentenzen zu Beginn dieser Rezension sollten auch nur die Bandbreite der Themen, Orte und Figuren ansatzweise skizzieren. Kurz gesagt: es geht ums Entdecken und Entschlüsseln des Mysteriums einer in vielfacher Hinsicht bizarren Buchhandlung in San Fransisco – die sich aber nur als eine Facette eines sehr alten weltumspannenden Geheimnisses entpuppt. Das Ganze wird spannend, geistreich und humorvoll erzählt. Neben den plastischen Situationsbeschreibungen überzeugt dabei insbesondere auch die Ausarbeitung der einzelnen Charaktere. Zwar nicht ganz auf dem Niveau von Umberto Eco – aber doch schon ganz nah dran.

Und das Ende? Natürlich eine Überraschung! Wer dann von der ganzen Thematik nicht so schnell wieder loslassen will, dem kann ebenfalls geholfen werden: Es gibt ein Prequel zum Roman, in dem die Vorgeschichte steht. Erschienen, genau wie das Hauptwerk, im März 2014 beim Blessing Verlag. „Die Unglaubliche Entdeckung des Mr. Penumbra“ ist eine ca. 80 Seiten umfassende Erzählung – und es gibt sie ausschließlich als eBook. Also noch so ein Trick von Mr. Sloan?

Robin Sloan, Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra
Karl Blessing Verlag, 2014

Autor: Harald Wurst | ph1.de

 

Rezension: Stefan Müller, 111 Gründe Bücher zu lieben. Oder: Ein Lese(r)buch.

Der Magdeburger Stefan Müller ist wohl das, was man im bildungssprachlichen Milieu gern als „Homme de lettres“ etikettiert. Geboren 1980, stellte er bereits als 17-jähriger seinen ersten Roman „Vertraute Fremde“ vor. Es folgten ein Studium der Germanistik und Anglistik, parallel dazu Engagements in den Redaktionen von Magdeburger General-Anzeiger bzw. Elbe Kurier und die Berufung zum Internetredakteur beim Landtag von Sachsen-Anhalt.

111 Gründe2013 erschien dann im Berliner Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf der Jugendroman „Tibor und ich“ vom mittlerweile promovierten Literaturwissenschaftler. Ach ja: als Sänger ist Stefan Müller auch unterwegs. Und nun stimmt er – ebenfalls bei Schwarzkopf & Schwarzkopf verlegt – ein vielseitiges Loblied aufs Lesen an. „Oha!“, denkt da womöglich mancher sofort: Schon wieder so ein subjektiver Kanon der empfehlenswerten Literatur.

Ja… teilweise durchaus. Aber „111 Gründe Bücher zu lieben“ ist weit mehr als eine Lese-Liste für mehr oder weniger bewanderte Literaturfreunde. Stefan Müller führt seine Leser hier in mehrfacher Hinsicht „listig“ ans Thema ran. Wie und wo kann die Liebe zu Büchern entstehen? Was sagt uns ein Gedankenstrich bei Kleist? Ist Anna Karenina ein Buch zum Film? Macht Büchersortieren eigentlich kreativ? Ist Hans Henny Jahnn ein sexuell getriebener Revoluzzer? In diesem Spektrum behandelt Müller seinen Themenkreis. Und in 111 Aspekten wird so bei dieser Hommage ans Lesen das Leben mit Büchern betrachtet, beschrieben und auch hinterfragt. Den Doktor der Literaturwissenschaft lässt Stefan Müller dabei eher selten aus dem Text herausdozieren. Erfreulicherweise. Denn der vorherrschende Stil in diesem Buch ist zwar von profundem Wissen geprägt – aber immer mit einer freundlichen Leichtigkeit präsentiert. Wobei mir persönlich manche Ausführungen fast etwas zu leise, zu betulich oder zu zutraulich hinsichtlich der beim Humor nach oben offenen Richterskala präsentiert werden. Insbesondere werden vor allem „Hardcore-Leser“ hier kaum auf bislang ungeahnte Literaturempfehlungen stoßen. Das dürfte allerdings auch nicht die Absicht von Stefan Müller beim Schreiben dieses Buches für die 111-Reihe des Verlags gewesen sein. Wer aber einfach mal eine feine Bestätigung für den sinnstiftenden Gehalt seiner Liebhaberei für Bücher und das Lesen an sich möchte oder an ein Geschenk für hoffnungsvolle Nachwuchsleseratten denkt, bekommt mit „111 Gründe“ von Stefan Müller schon reichlich gute Argumente an die Hand. Und hat womöglich – neben unterhaltsamer Nachttischlektüre – damit auch ein linguistisches Update für so manchen Smalltalk unter Gleichgesinnten genossen.

Autor: Harald Wurst | ph1.de