Rezension: Ryan Bartelmay, Voran, voran, immer weiter voran

Amerikanischer Mittelwesten, 1950-1998: Über fast ein halbes Jahrhundert begleitet der Leser die Brüder Chic und Buddy Waldbeeser. Ihr Vater hat sich früh umgebracht, die Mutter ist mit einem neuen Mann nach Florida gegangen, aber sie beeinflussen immer noch das Leben der Brüder. Der Älteste, Buddy, geht fast am Selbstmord seines Vaters zugrunde. Ihm fehlt jemand, der seinem Leben eine Richtung gibt. Chic sehnt sich nach einem großen Bruder, zu dem er aufschauen kann, doch das kann Buddy nicht leisten. Die Sehnsucht nach Emotionen, nach Verbindung und Verlässlichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben der Brüder. Ihnen bei der Suche nach einem Ziel, einer Bestimmung und der Erfüllung des kindlichen Wunsches nach bedingungsloser Liebe zuzusehen, ist manchmal fast schmerzhaft.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Verzweifelte Suche nach Halt
„Sein Wunsch nach einer Verbindung zu einem Menschen oder einer Sache war so stark, dass er sich fühlte, als würde in seinem Inneren ein Mixer rotieren und ständig seine Sehnsucht umrühren“, so Chic im Jahre 1971. Während der knapp 50 Jahre passiert nicht wirklich viel, das Leben der vier Protagonisten plätschert so dahin, durchbrochen von einer Tragödie und aneinander gekettet durch ein Geheimnis. Resigniert fasst Chic mit gerade mal 40 Jahren seine bisherige Lebenserfahrung in einem Monolog zusammen: „Wenn Sie Glück haben, wird jemand Sie lieben. Diesen Menschen werden Sie enttäuschen. Der Mensch, der Sie liebt, wird Sie eines Tags vielleicht hassen, und Sie können nichts dagegen machen. Auch wenn Sie es versuchen. Und Sie werden es versuchen. (…) Das Schlimmste ist, dass Sie es nicht aufhalten können. Nichts davon. Das Leben hat seine eigene Dynamik. Voran, voran, immer weiter voran.“ Und das ist die Tragik: Nicht das Leben der Waldbeesers geht voran, sondern das Leben um sie herum, unerbittlich und rücksichtslos.

Voran. Zum neuen Anfang oder zum Ende.
In ständigen Sprüngen zwischen den Jahrzehnten verfolgt der Leser, wie Chic gnadenlos altert und wie er sich sein Leben im Jahr 1998 eingerichtet hat. So weiß der Leser bereits, wie es Chick im Alter ergehen wird, während er als Neunzehnjähriger frisch verheiratet sein Leben beginnt. An vielen Stellen des Buches möchte ich Chic an den Schultern nehmen und schütteln, ihm zurufen: „Siehst du nicht, was passiert?“. Ich werde zum ohnmächtigen Augenzeugen und weiß schon lange vor den Protagonisten, welche Auswirkungen ihre Handlungen (oder Handlungsunfähigkeiten) haben. Chic, Buddy und ihre Frauen sind wie Planeten, die – gefangen auf ihrer eigenen Umlaufbahn – unermüdlich umeinander kreisen. Manchmal kommen sie sich auf ihrer Reise sehr nahe, dann wieder sind sie Lichtjahre voneinander entfernt. Und jeder Versuch, aus ihrer Umlaufbahn auszubrechen, scheitert.

Mein Fazit
Voran, voran, immer weiter voran ist das Romandebüt des 39jährigen Ryan Bartelmay, der mit seiner Familie in Chicago lebt. Seine klare und schnörkellose Sprache kommentiert und seziert das Leben der beiden Brüder schonungslos und lakonisch. Der leise Humor, der an vielen Stellen hervorblitzt, bewahrt das Buch davor, depressiv oder frustrierend zu werden. Es bleibt stets ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass sich alles zum Besseren wenden könnte. Ryan Bartelmay schafft es durch seine Schreibweise allerdings immer wieder, dass diese Hoffnung schal schmeckt und dass der Humor zum Galgenhumor wird. Ich hatte gehofft, dass die Geschichte um Liebe und Verlust, Schuld und Versöhnung, Sprachlosigkeit und Resignation für alle Beteiligten ein gutes Ende haben wird – und wusste doch schon früh, dass ich nur ohnmächtiger Zuschauer sein würde.

Ryan Bartelmay, Voran, voran, immer weiter voran
Blessing Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Voran-voran-immer-weiter-voran-9783896675262
Autor: Dorothee Bluhm
www.wortparade.de