Rezension: Thomas Bannerhed, Die Raben

Ein kleiner Hof im schwedischen Småland ist die Heimat des zwölfjährigen Klas, seiner Eltern und seines Bruders Göran. Eigentlich eine Umgebung, die mit unbeschwerter Kindheit, schöner Landschaft und freundlichen Menschen in Verbindung gebracht wird. Doch das Bild, das Thomas Bannerhed in „Die Raben“ zeichnet, könnte gegensätzlicher nicht sein.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Wenn ich ein Vogel wär…

Klas ist ein passionierter Vogelbeobachter. Er weiß alles über die Arten, die in den Wäldern und Wiesen rund um den Hof leben. Besonders faszinieren ihn die Raben, stundenlang könnte er ihnen zusehen – und dabei die Realität vergessen. Und die ist alles andere als idyllisch: Der Vater, durch die schwere Arbeit mit dem Hof überfordert, gleitet immer in den Wahnsinn ab. Klas selbst, als ältester Sohn auf dem Hof besonders verpflichtet, fühlt sich der körperlichen Arbeit nicht gewachsen. Je weiter die Krankheit des Vaters fortschreitet, desto mehr hat auch Klas das Gefühl, dem Irrsinn anheim zu fallen. Er wird zum Bettnässer, träumt mehrfach davon, dass der Hof abbrennt, sieht sich von einem „Schwarzen Auge“ verfolgt und hört eine Stimme, die ihm Befehle erteilt. Auch die Hoffnung auf eine unbeschwerte Romanze mit Veronika erfüllt sich nicht. Auf dem elterlichen Hof häufen sich die seltsamen Ereignisse, sodass der Schluss des Buches nur die logische Konsequenz der Geschichte ist.

Nicht ganz einfache Poesie

Thomas Bannerhed gibt Klas‘ Sinneseindrücke mit großer Detailtreue wieder. Dabei bedient er sich eines poetisch anmutenden Sprachstils, der wie ein verbaler Weichzeichner wirkt. So wird die Landschaft Schwedens lebendig; ja, die Vögel singen und die Flüsse rauschen, und alle Gerüche, Gefühle und Geschmäcker vermitteln sowohl vom Umfeld als auch von den Charakteren ein individuelles Bild. Aber genau diese Detailverliebtheit macht es auch ein wenig verwirrend, dem Buch zu folgen, werden doch äußere und innere Eindrücke immer wieder vermischt. „Die Raben“ will konzentriert und nicht nebenbei gelesen werden. Die Sprache mit ihren plastischen Darstellungen regt die Phantasie an und verliert sich gleichzeitig in dieser. So ist dieses Buch sprachlich eher dem anspruchsvolleren Teil der Literatur zuzurechnen.

Mein Fazit

Wer gern opulente Sprachbilder mag, sich gern der eigenen Phantasie hingibt und noch dazu die Langsamkeit schätzt, die den nordischen Romanen zu eigen ist, der findet mit den „Raben“ ein anspruchsvolles Stück Literatur. Die ständige Vermischung von Träumen und Gedanken des Protagonisten mit der Realität machen es zu einem guten Stück Arbeit, der Handlung zu folgen. Zu oft habe ich den Eindruck, dass Klas‘ Gedanken und Gefühle eher einem erwachsenen Hirn entspringen als dem eines Zwölfjährigen. Damit wirkt das Buch als ein Versuch des Autors, wieder Kind zu werden und doch nicht aus seiner Haut – und seinen Formulierungen – entfliehen zu können. Dieser Umstand macht es, selbst bei einer Vorliebe für nordische Autoren, nicht zwingend zu einem Buch, das man gelesen haben muss.

Thomas Bannerhed, Die Raben
btb, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Raben-9783442753925
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 4: Ulla-Lena Lundberg, Eis – ein Drama voller Hoffnung

Wer den Klappentext des Romans „Eis“ der schwedisch-finnischen Autorin Ulla-Lena Lundberg liest, dürfte im ersten Moment eher abgeschreckt sein. Der deutet eher auf ein Heimatmelodram in bester Konsalik-Manier oder eine blutrünstige Story hin, welche Horror-B-Movies aus den 1970er Jahren zum Vorbild haben könnte. Was den Leser tatsächlich erwartet, wird jedoch nicht angedeutet: Ein einfühlsames Drama voller Hoffnung, das in einer Zeit angesiedelt ist, als ganz Europa in Trümmern lag.

Cover Eis Mare-verlagDie Handlung

Die Autorin erzählt aus der Sicht des allwissenden Erzählers die Geschichte des Geistlichen Peter Kümmel und seiner Familie auf den Örar-Inseln kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Obwohl die Inseln irgendwo im Nirgendwo zwischen Schweden und Finnland liegen, hat der Krieg auch hier seine Spuren hinterlassen. Etwa in Form von Frau Doktor Gyllen, deren sowjetische Abschlüsse in Finnland nicht anerkannt werden, weshalb sie auf den Inseln als Hebamme arbeitet, bis sie einen regulären finnischen Abschluss erworben hat. Die Bevölkerung hat keine Ahnung, welches dunkle Geheimnis Frau Doktor mit sich trägt: Nachdem ihr Mann von Stalins Schergen verhaftet worden war, hatte sie ihren Sohn zurückgelassen und war aus der Sowjetunion geflüchtet. Sie vertraut sich lediglich Peter Kümmel an, nachdem dieser eine feste Autorität in der Kirchengemeinde geworden ist.

Aufgenommen wird der neue Pfarrer, der jedoch erst noch die Abschlussprüfung bestehen muss, bevor er als vollwertiger Pfarrer anerkannt ist, von der Gemeinde herzlich. Vor allem der Küster und der Kantor, die später zu den besten Freunden der Kümmels auf der Insel werden sollen, sind ihm anfangs eine wichtige Stütze. Schließlich ist die Gemeinde auf den Inseln trotz des scheinbaren Zusammenhalts tief in zwei Fraktionen gespalten, sodass der Pfarrer stets zu einem gerechten Ausgleich zwischen den Siedlungen im Westen und im Osten der Inseln bedacht sein muss.

Es gelingt der jungen Pfarrersfamilie schnell, sich auf den Inseln einzuleben und sich dank der landwirtschaftlichen Kenntnisse von Mona Kümmel die Grundlage für bescheidenen Wohlstand zu schaffen. Obwohl Mona bisweilen eifersüchtig auf die Gemeinde ist, die ihren Gatten allzu sehr in Beschlag nimmt, scheint dem Glück der Familie trotz einiger Schwierigkeiten und Rückschläge auf den Örar-Inseln nichts im Wege zu stehen. Ein einziger unbedachter Augenblick bereitet dem Glück der jungen Familie jedoch ein jähes Ende.

Ein Zeitsprung für den Leser

Mit „Eis“ gelingt es Ulla-Lena Lundberg, ein fulminantes und dennoch einfühlsames Stück jüngerer Vergangenheit anhand der Schicksale einzelner Personen zu erzählen. Sie beschreibt nüchtern in einem Stil, der dem gemächlichen Lebensrhythmus der Inselbewohner angepasst wird. Lundberg verzichtet auch in dramatischen Momenten auf jegliche Melodramatik, was ihre Figuren umso plastischer und lebendiger erscheinen lässt. Sie beschreibt Episoden aus dem Leben ihrer Figuren, die einfach nur ihr Leben leben wollen. Geschickt lässt sie einige historische Fakten einfließen, die den Leser nicht überfordern, aber einen Einblick in die alltäglichen Herausforderungen geben, denen sich die Menschen in den ersten Jahren unmittelbar nach der großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts stellen mussten.

Mein Fazit

„Eis“ ist ein rundum gelungenes Werk, das den Leser von der ersten bis zur letzten Seite gemächlich in seinen Bann zieht. Ein ideales Buch also für warme Winterabende vor dem flackernden Kaminfeuer.

Ulla-Lena Lundberg, Eis
Mare Verlag, 1. Auflage August 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Eis-9783866482067

Autor: Harry Pfliegl