Rezension: Alexandra Friedmann, Besserland

Dass wahre Geschichten mit einem realen Hintergrund nicht schwermütig oder mit tragischem Unterton erzählt werden müssen, beweist Alexandra Friedmann mit ihrem Erstlingswerk „Besserland“. Sie erzählt die Geschichte ihrer Familie, die eigentlich aus der Sowjetunion in die USA auswandern wollte, letztlich aber in Krefeld strandete. Obwohl aufgrund der Ereignisse wie dem Reaktorunglück von Tschernobyl durchaus tragische Elemente mitschwingen, schafft Alexandra Friedmann ein witzig und temporeich erzähltes Stück Zeitgeschichte.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
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Auf der Suche nach Freiheit

Eigentlich haben sich Lena und Edik, die Eltern der kleinen Sanja, ganz gut mit dem System in der Sowjetunion arrangiert: Lena ist eine ehrgeizige Bauzeichnerin, die mehr Zeit an ihrer Arbeitsstelle verbringt als zu Hause. Edik leitet einige Mitarbeiter in der Baubehörde der weißrussischen Stadt Gomel. Er arbeitet jedoch nur das nötigste, verbringt lieber Zeit mit seinem Kind oder spielt mit Freunden Karten und vergisst selbstverständlich nicht, sich mit Gefälligkeiten und Zuwendungen ein Netzwerk an Kontaktleuten aufzubauen.

Als Michail Gorbatschow die Perestroika ausruft, um Staat und Gesellschaft zu erneuern, gehören die Friedmanns zunächst zu den Profiteuren dieser neuen Zeit: Edik gründet eine Kooperative und schafft einen bescheidenen Wohlstand für seine Familie. Doch das Glück währt nur kurz: Die gewonnenen Freiheiten werden wieder eingeschränkt, während zugleich die Repressionen gegen Juden zunehmen. Die schwarzen Niederschläge, die nach dem Reaktorunglück auch in Gomel vom Himmel fallen, fasst die Familie als schlechtes Omen für die Zukunft auf.

Die Reise nach Besserland

Nachdem die Ausreise für sowjetische Juden, die eine Einladung von Verwandten aus den USA oder Israel besitzen, erleichtert wurde, setzt Edik Friedmann alle Hebel in Bewegung, um an die begehrten Papiere, nämlich ein Visum und ein Zugticket nach Wien zu bekommen. Die Familie kann schließlich über Warschau nach Wien ausreisen, muss jedoch entgegen der Versprechen eines Kontaktmannes den Großteil ihres Besitzes zurücklassen. In Wien findet die Familie Unterschlupf bei Jossik, der ihnen statt der Ausreise in die USA einen Asylantrag in Deutschland schmackhaft macht. Die Friedmanns müssen erneut eine abenteuerliche Reise unternehmen, um die Grenze zu passieren, können erfolgreich Asyl beantragen und bauen schließlich in Krefeld eine Zukunft auf.

Nichts ist skurriler als die Realität

Alexandra Friedmann erzählt die Geschichte aus der Perspektive der kleinen Saskja, ohne die hintergründigen Ereignisse in irgendeiner Form zu werten. Sie erzählt eher als neutraler Beobachter und entwickelt Setting sowie Charaktere durch die detaillierte Schilderung von Anekdoten. Diese wirken teilweise so skurril, dass sie sich einfach so zugetragen haben müssen. Ein Beispiel: Ediks Kontaktmann zum Zoll taucht an der russischen Grenze mit eingegipsten Armen und zerschlagenem Gesicht auf und erklärt, dass seine Kontaktleute dummerweise gerade nicht Dienst hätten und die Friedmanns deshalb nichts durch den Zoll schmuggeln könnten.

Die Charaktere bis hin zu den Nebenfiguren skizziert Alexandra Friedmann liebevoll mit all ihren Stärken und Schwächen. Dadurch wirken sie so authentisch, dass unweigerlich Bilder der gerade handelnden Personen im Kopf haben – Kopfkino der Zeitgeschichte.

Mein Fazit

Mit „Besserland“ ist Alexandra Friedmann ein überzeugendes Debüt gelungen. Insgesamt wirkt die erste Hälfte des Romans stärker als der Schluss, der sich fast zwangsläufig zu einem Happy End entwickelt. Die skurrilen Situationen aus dem ganz alltäglichen Wahnsinn in der Sowjetunion, die phasenweise fast an „Per Anhalter durch die Galaxis“ erinnern, treten in der zweiten Romanhälfte fast komplett in den Hintergrund. Hier hätte die Autorin einige Stellen, etwa den ersten Einkauf des Vaters in einem großen Supermarkt, für den er eine Autobahn überquert, durchaus weiter ausbauen können. Davon unbenommen hat Alexandra Friedmann mit „Besserland“ etwas geschafft, woran schon so mancher etablierte Autorenkollege gescheitert ist: Eine kurzweilige Geschichte aus der Sicht des „kleinen Mannes“ vor dem Hintergrund einer der größten weltpolitischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts zu erzählen.

Alexandra Friedmann, Besserland
Graf Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Besserland-9783862200528
Autor: Harry Pfliegl

Rezension: Shreyas Rajagopal, Scar City. Oder: Incredible India

Sex, Drogen, Reichtum, Psychosen… hier kommt das selektiv aus der Perspektive einer jugendlichen Oberschicht betrachtete Indien der Gegenwart. Lakonisch, kosmopolitisch, zynisch und entsprechend des Handlungstempos im hastigen Präsens beschrieben.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
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Willkommen im Debütroman von Shreyas Rajagopal! Der Autor ist Jahrgang 1986 und lebt in Bombay, wo er – wie passend – im Finanzsektor arbeitet. Studiert hat er unter anderem am Indian Institute of Management, was sich aber, außer einer offensichtlichen Kenntnis der indischen Sozialstruktur, nicht wirklich in seinem Roman bemerkbar macht. Freilich aber zeigt dieses 2013 geschriebene Buch alle Merkmale eines literarischen Erstlingswerks: rasches Wechselspiel von Nähe und Distanz, unbekümmertes Experimentieren mit unterschiedlichen Stilen, die eitle Lust am Dokumentieren der eigenen Genialität und des Wissens „um die Dinge“ sowie das generelle Grundrauschen einer expressionistischen Wucht.

Worum geht’s? Student Rish kommt nach „Schwierigkeiten“ in New York für eine Auszeit nach Bombay zurück. Und er landet quasi unmittelbar in einem dämonischen Pantheon aus Freunden, Eltern, Drogendealern, ehemaligen und zukünftigen Sex- und Partygefährten… kurz: es startet eine Tour de Force für Körper und Geist. Und der Strudel aus Rausch und Hass auf die Gesellschaft dreht munter seine Runden. Ja, auch Bret Easton Ellis (American Psycho) lässt hier grüßen. Nicht nur durch die fast obsessive Erwähnung von Markenprodukten, sondern auch durch die gnadenlose Kälte der Eigen- und Fremdbeobachtung des Helden. Das Indien der Milliarden Menschen mit weniger als mindestens Millionärsstatus kommt dabei übrigens gerade noch als Staffage vor.

Wer nun aber glaubt: Aha, wieder so eine überdrehte Schnösel-Story aus dem Milieu der globalen Nichtsnutze mit „goldenem Löffel“ Syndrom… nun, der springt hier eindeutig zu kurz! Rajagopal schreibt hier aus der auktorialen Perspektive – und offeriert Rückblenden mit beeindruckenden Blicken in eine gequälte Psyche. Seine Sprache ist dabei so intensiv wie bildstark – und er trifft den Ton jeder Situation ausgesprochen stimmig. Ein Lob auch der deutschen Übersetzung. Auf so ein kongeniales Wort wie Durschnitten für eine Versammlung mittelmäßiger Fickangebote weiblicher Art muss man erst einmal kommen.

Und wo bleibt in dieser Geschichte nun die Moral? Erfreulicherweise gibt es die hier nicht! Es handelt nämlich keineswegs um einen klassischen „Coming of Age“ Plot, sondern die mitleidslose Schilderung einer Reise in den kontrollierten Wahnsinn. Wobei Rajagopal keinen Zweifel daran lässt, dass dieses Indien der abgehobenen Oberschicht demnächst ganz gewaltig um die Ohren fliegen wird. Bis dahin gilt ein typischer Satz aus der Gedankenwelt des Protagonisten Rish: Du bist wie Plastik – du wirst alles hier überdauern.

Shreyas Rajagopal, Scar City
Ullstein Hardcover, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Scar-City-9783550080647
Autor: Harald Wurst | ph1.de

Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 6: Riikka Pulkkinnen, Die Ruhelose. Oder: Das Leichte im Schweren

Der Erstlingsroman der Finnin Riikka Pulkkinnen hat es in sich. Sie spricht Themen an, mit denen ich mich als Leserin nicht gerne beschäftige, wenn ich auf der Suche nach einem unterhaltsamen Roman bin: Tod und Sterben, Sterbehilfe und die herrschende Sexualmoral.

Entscheiden oder zerbrechen

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
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Da ist Anja, Universitätsprofessorin und eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht. Ihr Mann ist schwer an Demenz erkrankt und hat ihr bereits vor Jahren das Versprechen abgenommen, ihm eines Tages Sterbehilfe zu leisten. Ein Versprechen, das Anja mehr und mehr belastet und an dem sie zu zerbrechen droht.

Da ist Marie, Schülerin der Oberstufe, die ein Verhältnis mit ihrem Literaturlehrer hat und nicht von ihm lassen kann, obwohl sie ahnt, dass dieses Verhältnis ihr nicht gut tut. Anni, die kleine Tochter des Lehrers, sieht und hört viel mehr, als sie in ihrem Alter eigentlich sollte und Julian, der Lehrer, findet aus dem, was anfänglich eigentlich nur als harmloses Spiel gemeint war, nicht mehr heraus. Immer wieder sucht er nach neuen Rechtfertigungen dafür, warum das Verhältnis mit Marie weitergehen sollte.

Die Figuren im Roman von Riikka Pulkkinnen stehen vor einer schweren Entscheidung oder einer Lebenskrise, und erst ein ungewöhnliches oder dramatisches Ereignis führt zu einer Entscheidung. Fast wähnt man sich als Leserin in einer klassischen Tragödie, in der es ja auch erst zu einer Katastrophe kommt, bevor die Figuren sich weiterentwickeln können oder die Handlungsstränge zusammengeführt werden.

Zusammenfügen, was zusammen gehört

Besonders fasziniert hat mich an diesem Roman, dass die Figuren zunächst nebeneinander her zu laufen scheinen. Erst nach und nach verzahnen sich die Geschichten und Personen miteinander und es entsteht ein großes Bild. Anja, die heimliche Hauptfigur des Romans, ist Maries Tante. Anja begegnet der Tochter Julians begegnet und begräbt mit ihr einen toten Igel in einem kleinen Wäldchen. Das berührt mich.

Mein Fazit

Auch wenn Riikka Pulkkinnen in ihrem Roman also schwere Kost serviert, die man als Leserin erst einmal verdauen muss: Es lohnt sich unbedingt, sich auf diesen finnischen Roman einzulassen. Trotz der angesprochenen Themen kommt die Leichtigkeit in diesem Roman nicht zu kurz und zwischendurch ist Schmunzeln durchaus erlaubt. Dass man sich ganz nebenbei mit ethisch-moralischen Fragen beschäftigt, die auch für die deutsche Gesellschaft relevant sind, ist ein durchaus gewollter Nebeneffekt.

Riikka Pulkkinnen, Die Ruhelose
List Hardcover, 2014
Autorenseite (Finnisch und Englisch): http://riikkapulkkinen.com/teokset
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Ruhelose-9783471350720
Autorin: Yvonne Giebels

Rezension: Ted Thompson, Land der Gewohnheit. Oder: Die Demaskierung des American Dream

Anders und Helene führen nach außen ein typisch amerikanisches Leben: Haus mit Garten, zwei erwachsene Söhne, ein seit Jahren befreundetes Ehepaar, Erfolg im Beruf (Anders) und ehrenamtliches Engagement (Helene). Trotzdem bricht Anders aus dieser scheinbaren Idylle aus, reicht die Scheidung ein, sorgt bei der jährlichen Weihnachtsparty der Freunde für einen Eklat und arrangiert sich in seinem neuen Leben als Single. Bald registriert er allerdings, was er aufgegeben hat und will reumütig zurückkehren. Warum das nicht möglich ist und was überhaupt zu Anders‘ Ausbruch führte, deckt Ted Thompson nach und nach auf und sorgt wie ein Chirurg, präzise und schmerzhaft, für eine Demaskierung des American Dream.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Der Schmerz des Aufwachsens

„Erwachsensein bedeutete genau das, oder? Eine Welt zu schaffen, die ein klein bisschen besser war als die, in die man selbst hineingeboren worden war.“

Wäre das möglich, lebten wir alle in einer perfekten Welt. Doch selbst, wenn wir die scheinbaren Fehler unserer Eltern nicht wiederholen, machen wir doch andere – eine Erkenntnis, der auch Anders sich stellen muss.

Sein Leben lang versucht Anders, aus dem mächtigen Schatten seines erfolgreichen und unnahbaren Vaters herauszutreten, sein spießiges und distanziertes Elternhaus abzustreifen, und schafft doch, auf seine eigene Weise, eine ebenso spießige Vorort-Idylle mit entfremdeten Söhnen. Der ältere Sohn, Tommy, wiederholt genau dieses Muster und lebt zielstrebig und erfolgreich mit Frau und Kindern in einem hübschen Haus, während der jüngere Sohn, Preston, sein Leben scheinbar überhaupt nicht im Griff hat und sich in der Welt von Drogen und Kleinkriminalität bewegt.

Welche Beziehung und welches Lebensmodell Ted Thompson auch beleuchtet, es bröckelt überall und auch unter der Fassade der reichen Freunde lauern Abgründe. Schicht für Schicht trägt der Autor die dicke Farbe auf den Fassaden ab, beleuchtet schonungslos alle Verhinderungsstrategien, Ausflüchte, Rebellionsversuche und gescheiterten Pläne. Am Ende bleiben hilflose und verwirrte Gestalten auf der Suche nach dem eigentlichen Selbst, der Wahrheit und bedingungsloser Liebe. Gefangen in ihren Rollen und hinter ihren Masken können sie nicht aus ihrer Haut und sind so gefangen im Land der Gewohnheit. So spitzt sich alles zu und liegt nach dem Finale in Trümmern. Liegt hier vielleicht die Chance, doch noch so zu leben, dass man sich selbst im Spiegel in die Augen schauen kann, ohne Verachtung zu spüren?

Mitreißender Gedankenstrudel

In einigen Rezensionen wird Thompsons Schreibstil angeprangert, mich hingegen hat er absolut in seinen Bann gezogen. Die langen und teilweise verschachtelten Sätze haben – zusammen mit Sprüngen zwischen Gegenwart und Rückblenden – laut Rezensionen viele Leser abgeschreckt. Für mich untermauert diese Schreibweise absolut das, was Thompson inhaltlich beschreibt: Rasende und springende Gedanken, die kaum richtig zu fassen sind. Eine Unruhe, von denen die Protagonisten getrieben werden, die aber nicht konkret festzumachen ist. Den Versuch, Muster in der Vergangenheit zu erkennen und zu durchbrechen, und das Scheitern am hektischen Fluss des Alltags.

Im ersten Teil werden Gegenwart und Rückblick aus Anders‘ Sicht geschildert, den Mittelteil und das Finale schildert Thompson aus Helens und Prestons Position. Dadurch und in diversen Rückblenden wird deutlich, wie unterschiedlich zwei oder mehr Personen dieselbe Situation erleben können. Während zum Beispiel Anders seiner Familie durch unermüdliche Arbeit seine Liebe zeigt, wünscht sich seine Frau Helen eher persönliche Zuwendung. Durch Sprachlosigkeit und oberflächliches „Uns-geht’s-gut“-Denken verfestigen sich Konflikte und eskalieren schließlich.

Land der Gewohnheit ist ein schonungsloses Buch, das fein beobachtet, detailliert das Skalpell ansetzt und durchaus humorig eine ganz normale amerikanische Familie demontiert. Teilweise habe ich mich wie ein Voyeur gefühlt, der mit wachsendem Unbehagen Zeuge eines Streits wird, bei dem mehr und mehr schmutzige Wäsche ans Licht kommt, der aber auch zu faszinierend ist, um nicht weiter zuzuhören. Dazu kommen auch die vielen schrägen und bösartig-witzigen Situationen, die den Leser oft zwischen Mitleid und Häme schwanken lassen. Für mich ein lesenswertes Buch, das den Blick auf die eigene Lebenssituation und die eigenen Träume und Familienmuster schärft.

Ted Thompson, Land der Gewohnheit
Ullstein, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Land-der-Gewohnheit-9783550080746

Autor: Dorothee Bluhm
www.wortparade.de

Rezension: Anita Augustin, Alles Amok. Oder: Der ganz normale Wahnsinn

Wer Skurrilitäten und schwarzen, österreichischen Humor à la Ludwig Hirsch mag, wird Anita Augustins „Alles Amok“ lieben: Die Autorin, die als freie Dramaturgin arbeitet und dem Studium der Theaterwissenschaft in Wien eine Ausbildung zur Barkeeperin anschloss, schickt ihren Protagonisten Jakob auf eine aberwitzige Reise durch den ganz normalen Wahnsinn des alltäglichen Lebens.

Quelle: ullsteinbuchverlage.de
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Die Handlung

Eigentlich ist Jakob ein ganz normaler, junger Mann, der auf einen sicheren Arbeitsplatz hofft und sich als Profi-Demonstrant durchs Leben schlägt. Er macht den Job und seinen Nebenjob, das Sammeln von Pfandgut gemeinsam mit dem Penner Paul,  mehr schlecht als recht. So kann er wenigstens die Rechnungen für die Residenz bezahlen, in welcher seine Mutter in zunehmender Senilität dem Tod entgegen dämmert. Seitdem Jakobs Mutter bei einer Operation im Alter von neun Jahren das Böse aus ihm herausnehmen ließ, trägt Jakob ein dunkles Geheimnis mit sich herum, von dem auch sein näheres Umfeld nichts weiß. Das besteht neben dem Penner Paul, von dem er viele seiner Lebensweisheiten bezieht, aus dem Sicherheitsmann Sigi, einem koreanischen Dichter, dem vermutlich homosexuellen Verkäufer in der Herrenabteilung eines Modehauses und der blonden Nachbarin Babsi, die verzweifelt eine vergebliche Bewerbung nach der anderen schreibt.

Jakob empfindet vermutlich eine Art Freundschaft zu diesen Personen. Er pflegt den Kontakt allerdings nur, weil er sie nach Kräften ausnutzt: Herbert stattet ihn mit der Kleidung für die Demonstrationen aus, die Gedichte des nordkoreanischen Dichters rezensiert er für das mittägliche Bratwurstbrötchen, und Babsi schleppt er regelmäßig in den Baumarkt, um im dortigen Musterhaus vermeintliche Familienfotos zu machen, die er regelmäßig seiner Mutter schickt.

Eine dramatische Wende

Jeder dieser Charaktere hat sich scheinbar im mühseligen Hamsterrad des eigenen Lebens eingerichtet, als der geheimnisvolle Jürgen auftritt und mysteriöse Einladungen ins Paradies verteilt. Jakob, der als einziger keine Einladung erhalten hat, ist trotzdem rechtzeitig am Treffpunkt und fährt mit seinen Gefährten schließlich ins Paradies. Dieses entpuppt sich als Vergnügungspark, in welchem die Angestellten jeden Tag glücklich zu sein haben, um widerum die Besucher glücklich zu machen. Jakob und seine Gefährten bekommen dort feste Jobs: Sie sind die Akteure in der Abteilung „Freakshow“. Jakob, dessen dunkles Geheimnis im Lauf des Buches gelüftet wird, ist von Jürgen als künftiger Star der Show ausersehen. Doch dann geschieht etwas, das die Freaks zum Aufstand gegen die schier allmächtige Parkleitung bewegt. Ist das Paradies nun am Ende?

Der Erzählstil

Temporeich hetzt Anita Augustin vor allem im ersten Teil von „Alles Amok“ von einer skurrilen Szene zur nächsten. Die Absurdität des Geschehens wird oft erst ersichtlich, sobald der Leser die kursiv gesetzten Gedanken des Protagonisten gelesen hat. Bei aller Komik darf der Roman durchaus als gesellschaftskritisch gelten, wobei die Autorin keine eigene Position bezieht, sondern das Geschehen als Beobachter schildert.

Mein Fazit

„Alles Amok“ ist ein Roman, der von der ersten bis zur letzten Seite einfach nur Spaß macht. Wie schon in ihrem Erstling „Der Zwerg reinigt den Kittel“ beweist Anita Augustin auch diesmal wieder gekonnt, dass Humor aus Deutschland durchaus sehr weit oberhalb der Gürtellinie angesiedelt sein kann.

Anita Augustin, Alles Amok
Ullstein Buchverlage, 2014
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Autor: Harry Sochor